Völlig normal für den Hund

Während das Zusammenleben mit dem Vierbeiner doch eigentlich für Entspannung und Freude sorgen sollte, sind heute "Problemverhalten" oder "unerwünschtes Hundeverhalten" in aller Munde. Man hört oder liest davon so oft, dass man den Eindruck bekommen könnte, Hunde verhielten sich gar nicht mehr "normal". Was aber ist überhaupt normales Hundeverhalten?

Border Collie schaut skeptisch

"Nicht normal" bedeutet oft einfach nur "unerwünscht"

Das Verhalten, das typisch für eine Tierart ist, wird in einem sogenannten Ethogramm zusammengefasst, einer Auflistung der beobachteten spezifischen Verhaltensweisen. Legt man dieses zugrunde, so zeigen sich unsere Vierbeiner zunächst in den meisten Situationen gar nicht unnormal. Häufig meinen wir nämlich mit der Bewertung "unerwünscht" oder "problematisch", dass das, was der Hund gerade tut, in der konkreten Situation oder gegenüber einer bestimmten Person oder einem anderen Vierbeiner unpassend ist. Oder dass wir es als störend empfinden. Aufmerksamkeit heischendes Verhalten, Aggression oder übertriebenes Jagen sind einige Beispiele dafür. Dasselbe Verhalten kann jedoch an einem anderen Ort oder gegenüber anderen Menschen bzw. Tieren tolerierbar oder sogar ausdrücklich erwünscht sein.

Unwissenheit zieht Missverständnisse nach sich

Unsere Bewertung ist letztendlich auch dafür verantwortlich, dass unsere Hunde so manches Mal gar nicht mehr wissen, wie sie sich eigentlich verhalten sollen. Wenn wir verstehen möchten, welches Verhalten bei unseren Vierbeinern "normal" ist, benötigen wir also eine ganze Menge an Wissen. Dazu gehört nicht nur zu verstehen, wie sie sich verhalten, sondern vor allem, warum. Warum springt der brave Liebling an seinem Besitzer hoch, warum knurrt er den Nachbarshund an etc.? Verhalten wird nämlich nicht einfach so gezeigt, es erfüllt eine Reihe von Aufgaben.
Unter dem Begriff "Sozialverhalten" beispielsweise versteht man das Abzielen eines Individuums auf die Reaktion oder Aktion eines anderen Individuums: Wenn der Vierbeiner seinen Kopf auf den Schoss seines Menschen legt, so möchte er, dass dieser ihn krault. Damit wird sein Bedürfnis nach Zuwendung gestillt - und unseres gleich mit.

Hund und Frauchen kuscheln auf dem Sofa

Welche Rolle spielt der Mensch eigentlich im Chaos?

Da wir Hundehalter meist doch sehr eng mit unseren Vierbeiner zusammenleben, glauben wir, sie gut zu kennen und über ihre Bedürfnisse Bescheid zu wissen. Dennoch ist das leider nicht immer der Fall. Was sind eigentlich die hundlichen Bedürfnisse? Lebewesen haben das Bedürfnis nach Bedarfsdeckung (etwas durch Futter), Schadensvermeidung (etwa Abwendung körperlicher Schäden) und nach einer positiven Befindlichkeit (etwa Sicherheit).
Könnte es nicht sein, dass wir zu einem gewissen Teil auch für das Verhalten unserer vierbeinigen Lieblinge mit verantwortlich sind, da wir eben gar nicht so genau über ihre Bedürfnisse und Empfindungen Bescheid wissen?

Welche Bedürfnisse haben unsere Vierbeiner?

Hunde sind denkende und fühlende Lebewesen. Sie haben Bedürfnisse, die weit über die tägliche Futteraufnahme und den mehrmaligen Gassigang hinausgehen. Zu den Bedürfnissen, die vorwiegend dem Selbstaufbau und Selbsterhalt dienen, gehören Nahrungsaufnahme, Ausscheidungsverhalten, Ruhen und Bewegung. Andere Verhaltensweisen haben mehr mit dem emotionalen Wohlbefinden zu tun, wie Körperpflege oder Spiel.
Da unsere Hunde nicht primär allein, sondern obligat sozial leben, ist für sie der Kontakt zu Artgenossen und uns Menschen von grosser Bedeutung.
Manche Hunde können sogar eher auf Artgenossen als auf ihre menschlichen Bezugspartner verzichten. Zu den hundlichen Bedürfnissen gehört es ferner, die Umwelt zu erkunden und zwar auch einmal ohne ständige reglementierende Aufsicht des Menschen. Indem sie neue Erfahrungen machen und diese verarbeiten, lernen sie. Dieses Bedürfnis endet nie, auch im Erwachsenenalter nicht. Hunde möchten ihre Umwelt erkunden, aktiv nach neuen Informationen, etwa durch Beschnüffeln von Urinmarkierungen von Artgenossen, suchen.

Herrchen und Hund halten Händchen

Gibt es Probleme, die der Mensch selber macht?

Auffälliges Verhalten hat ganz oft etwas damit zu tun, dass das Hundeindividuum nicht in der Lage ist, seine Bedürfnisse aus eigener Kraft zu befriedigen oder aktiv daran mitzuwirken, sein Wohl selbst in die Pfote zu nehmen.
Aufmerksamkeit heischendes Verhalten ist z. B. der Versuch des Vierbeiner, sein Bedürfnis, etwa nach Zuwendung, zu stillen. Das aber nervt seinen Besitzer, wird also als problematisch empfunden. Im Folgenden einige Beispiele aus dem Mensch-Hund-Alltag:

1. Der aggressive Hund an der Leine

Ein Hund, der an der Leine regelmässig viel zu nah an fremde Artgenossen geführt wird, ohne die Möglichkeit zu haben, selbst zu entscheiden, wie und ob er Kontakt aufnehmen möchte, wird womöglich schnappen, wenn er sich dieser Auseinandersetzung anders nicht entziehen kann. Daraus lernt er, dass er nur dann Schaden von sich abwenden kann, wenn er selbst aktiv wird und zubeisst. Wir sind es, die seine Bedürfnisse nicht kennen oder ignorieren und ihn so in eine Situation bringen, aus der er sich nicht anders zu befreien weiss. Und zu allem Überfluss halten wir dieses Verhalten dann auch noch für problematisch. Ausserdem fragen wir uns nicht, wie sich unser Hund fühlt, wenn er nicht, seinen Bedürfnissen entsprechend, den Rückzug antreten kann.

2. Anspringen von Menschen

Das Anspringen von Menschen ist meist freundlich gemeint und eine Kontaktaufnahme, die nichts mit Dominanz zu tun hat. Der Welpe stupst damit die Schnauzenregion seiner Mutter an, um mit ihr Kontakt aufzunehmen und eventuell Futter zu erhalten. Das begrüssende Anspringen unter Vierbeinern kann auch in Spiel übergehen. Unterbindet der Mensch diese soziopositive Kontaktaufnahme harsch, eventuell noch mit heftigstem Wegschubsen und Anschreien, so wird der junge Hund vermutlich weiter an dem Menschen hochspringen, da er nicht versteht, warum er abgewiesen wird. Da dies aber in unserer Welt aus den verschiedensten Gründen unpassend ist, müssen wir unserem Vierbeiner eine Alternative aufzeigen. Eine Möglichkeit wäre, sein Anspringen nicht zu beachten und schon gar nicht zu belohnen, jedoch zu honorieren, wenn er ruhig sitzt und uns nur anschaut. Seinem Bedürfnis nach Kontaktaufnahme kann er so dennoch nachkommen.

Hund stützt sich stehend an den Beinen vom Herrchen ab.

3. Vorlaufen bei einem Spaziergang

Ein Hund, der beim entspannten Spaziergang vorläuft und sich immer wieder nach uns umdreht, ist nicht dominant. Er ist lebensfroh und möchte, dass wir als seine Bezugsperson an seinem Leben teilhaben. Dieses Verhalten ist natürlich. Sollt er allerdings vorpreschen, um dann im Unterholz zu verschwinden und Wild zu jagen, sind wir angehalten, diesem Beutefangverhalten entsprechend entgegenzuwirken, z. B. durch ein Schleppleinentraining.

4. Spielfreude contra Autorität

Ein weiteres Missverständnis unter Hundehaltern stellt die folgende Regel dar, wenn sie pauschal aufgestellt wird: "Der Mensch beginnt und beendet ein Spiel mit dem Hund immer und ausnahmslos." Hunde aber lieben es zu spielen. Sie rennen für ihr Leben gern hinter ihrem Menschen her oder von ihm weg, schlagen gerne Haken und freuen sich darüber wie verrückt. Sie signalisieren mit typischen Gesten (z. B. Vorderkörpertiefstellung), dass gespielt wird. Rollenwechsel sind unter Hunden normal, mal darf der Chef im Rudel das Spiel bestimmen, mal der unerfahrene Junghund. Diese ausgelassene Stimmung schadet der so viel beschworenen Autorität des Halters keinesfalls, sie fördert geradezu die Bindung zwischen Mensch und Hund. Zum eigentlichen Spiel ist übrigens nicht das monotone Ballwerfen zu zählen, es gehört sogar zum Bereich des Beutefangverhaltens.

5. Aggression gegen Artgenossen

Aggression ist in aller Munde und der Begriff eindeutig negativ besetzt. Dabei ist Aggression ein absolutes normales Verhalten, denn es zielt darauf ab, das, was den Hund stört, zu beseitigen und ein äusseres Gleichgewicht wieder herzustellen. Dabei ist nicht gemeint, dass ein Artgenosse körperlich beschädigt werden soll. Vielmehr soll er z. B. durch Knurren daran erinnert werden, dass er die Individualdisatnz überschritten hat. Beobachtet man Hunde während solcher Interaktionen genau, so bemerkt man, dass sie sich bereits Sekunden später wieder entspannt verhalten, und zwar beide, sofern der Angeknurrte auch das Signal verstanden hat. Aggression ist zunächst also Kommunikation.
Dies sind nur einige Beispiele für mögliche Missverständnisse. Im konkreten Fall müssen diese Verhaltensweisen aber im jeweiligen Kontext und in der jeweiligen Situation angeschaut und bewertet werden.

Verhaltensprobleme und ihre vielfältigen Vorgeschichten

Gibt es also gar keine Verhaltensauffälligkeiten? Doch, die gibt es. Viele davon haben eine entsprechende Vorgeschichte, die nicht selten mit uns Menschen und den Haltungsbedingungen zusammenhängt. So ist es überaus beängstigend, wenn z. B. in Fernsehsendungen betont werden muss, dass Hunde hinaus an die frische Luft möchten, ihre Umwelt erkunden, rennen und spielen oder mit Artgenossen in Kontakt treten wollen. Dass durch das Nichterfüllen dieser essenziellen Bedürfnisse Verhaltensauffälligkeiten, ja sogar -störungen entstehen können, verwundert eigentlich nicht.
Krau knuddelt ihren Dackel

Aber nicht nur generell unpassende Haltungsbedingungen, sondern. auch zu wenig Zeit mit uns, fehlende Ruhephasen, dafür Daueraktivitäten auf der einen Seite sowie Monotonie und Langeweile auf der anderen können ursächlich für auffälliges Verhalten sein. Ebenso isoliertes Aufwachsen in den ersten Lebensmonaten . Schlimmstenfalls kann sich in der Tat eine Verhaltensstörung entwickeln. Diese hält sich dann hartnäckig, selbst wenn sich die Bedingungen wieder optimieren, vor allem, wenn der Hund in seiner frühesten Jugend Normalverhalten nicht erlernen konnte. All dies, so weiss man heute, äussert sich nicht nur in auffälligem Verhalten, es belastet die Tiere auch emotional.

Normalverhalten lenken, aber nicht wegtherapieren

"Unerwünschtes Verhalten" ist in den meisten Fällen also hundeeigenes, biologisch normales Verhalten. Es passt jedoch nicht in unsere menschliche Welt. Wenn wir jedoch wissen, welches Verhalten hundetypisch ist, ist die Chance sehr hoch, dass wir unserem Vierbeiner jene Umweltbedingungen schaffen, die für sein glückliches Leben notwendig sind. Das heisst jedoch nicht, dass wir ihm fortan jeden Wunsch von seinen Kulleraugen ablesen dürfen, denn auch Frust zu ertragen und gewisse Gruppenregeln zu folgen, gehört zum Leben.

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